Dao

Kapitel 5 – Erfahrungen

Abschnitt 3

Ich war mir sicher, dass Mao Lu Peng diese Demütigung nicht so einfach verkraften würde. Mit Sicherheit mussten das nun einige Kämpfer büßen. Es tat mir leid, dass nun andere unter seiner Wut, die durch mich geschürt worden war, leiden mussten und ich dachte so intensiv daran, dass Han Liang Tian meine Gedanken hörte. Ohne die Worte laut auszusprechen versuchte er mich zu beruhigen.
›Dich trifft keine Schuld, und du kannst jetzt auch nichts mehr daran ändern. Es war nur eine Frage der Zeit und der Umstände, dass Mao Lu Peng seinen wahren Charakter zeigt.‹ Er holte tief Luft. ›Ich hätte es schon früher erkennen müssen, doch der Glaube an das Gute in jedem Menschen hat mich blind gemacht.‹ Noch einmal holte er tief Luft. ›Nun kann ich nur noch versuchen, seiner Willkür Grenzen zu setzen. Aber in vielen Dingen sind mir jetzt die Hände gebunden.‹
Ich verstand das nicht ganz und in meiner Aufregung wollte ich laut fragen:
›Aber warum …‹
›Nicht jetzt und hier Gü Man! In meiner Kammer!‹
Erstaunt sah Wang Lee von einem zum anderen. Es hatte für ihn den Anschein, dass unsere Unterhaltung schon länger währte, er aber nur das Ende gehört hätte. Doch Wang Lee stellte keine Fragen. Er hatte sich soweit unter Kontrolle, dass er sich nichts anmerken ließ.
Als wir in der Kammer des Abtes waren, sah ich mich rasch um. Ich war noch nicht hier gewesen und an Wang Lees Blicken erkannte ich, dass es diesem ebenso ging. Der Raum war etwa dreimal so groß wie meine Kammer, doch ebenso spartanisch eingerichtet. Einen großen Teil des Raumes benötigte er für die Verwaltung des Klosters. Das mit Schriftstücken vollgestopfte Regal rechts neben der Tür und das kleine Tischchen mit den Schreibutensilien, zeugten davon. Die Schale mit dampfendem Tee und ein ausgebreitetes Schriftstück deuteten darauf hin, dass er noch vor Kurzem hier gesessen hatte. Auf der anderen Seite der Tür, neben seiner Schlafstelle, befand sich ein Buddhaschrein, vor dem ein Gefäß mit brennenden Räucherstäbchen stand. Sonst war wenig Auffälliges im Raum. Doch die hintersten dunkelsten Ecke zog meinen Blick magisch an. Ich hatte nicht erwartet, beim Abt, dem jedwede Anwendung von Gewalt zuwider war, eine reichverzierte Rüstung, einen prunkvollen Speer und ein edles Schwert in einer reichverzierten Scheide, zu sehen. Allerdings zeigte der Aufbewahrungsort in dieser Ecke, dass diese Gegenstände dem Abt nicht gar so wichtig waren.
Han Liang Tian, der bemerkt hatte, woran mein Blick hängengeblieben war, sagte:
›Ich gehörte nicht immer zu den Betmönchen. Als ich noch jung war, gab es wenige, die mir im Kampf gewachsen waren und ich war ein Meister wie Mao Lu Peng. Und was diese Ausrüstung betrifft: Es ist das Rüstzeug, das dem Abt des Klosters, der als erster vom damaligen Kaiser wegen der Verdienste des Klosters zum großen General ernannt worden ist, als Geschenk überreicht wurde. Seit dieser Zeit wird es von Abt zu Abt, die meist auch die besten Kämpfer sind, weitervererbt.‹ Han Liang Tian setzte sich auf den Boden vor das niedrige Tischchen und bedeutete uns, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
›Damals war ich eitel und sehr stolz darauf, diese Rüstung zu bekommen. Doch ich hatte einen sehr guten Lehrer, der mich auf den richtigen Weg führte.‹ Wieder einmal sah ich seine Hand über den kahlen Schädel streichen. ›Leider bin ich kein so guter Lehrer und habe bei Mao Lu Peng viele Fehler gemacht. Er ist einer der besten Kämpfer, die es jemals im Kloster gab, doch das Rüstzeug wird er wahrscheinlich nicht bekommen. Sein Geist und sein Körper gehen verschiedene Wege und die Vereinigung der beiden ist eine wichtige Eigenschaft, die der Abt des Klosters besitzen sollte.‹ Nachdenklich schloss er kurz die Augen. ›Es gibt Wenige, denen ich diese Eigenschaft im Moment zutraue. Die Alten können wir getrost weglassen. Sie streben nicht mehr nach dem Amt des Abtes und es sollte auch ein Jüngerer sein, der nach mir die Geschicke des Klosters weiterleitet. Hu Kang hatte ich es zugetraut, doch nach seiner Verwundung ist er sehr ruhig geworden und möchte nur noch für Buddha leben.‹ Er sah auf und Wang Lee in die Augen. ›Zu den fünf aussichtsreichsten Kandidaten gehörst du, Wang Lee.‹ Verlegen sah Wang Lee zu Boden und die Schamröte stieg ihm ins Gesicht.
›Es ehrt mich, dass du eine so hohe Meinung von mir hast, doch ich denke, es gibt viele Klügere und Bessere als mich.‹
›Gerade weil du so denkst, bist du einer der besten Kandidaten. Doch du hast noch einen langen Weg vor dir. Es gibt noch vieles, was du bis dahin lernen musst. Eigentlich ist es besser, wenn viele dieser Erkenntnisse von innen heraus, von dir selbst, kommen. Doch ich habe Angst, besonders durch die letzten Entwicklungen, dass mir nicht mehr genügend Zeit bleibt, um das Kloster in würdige Hände zu übergeben.‹ Er machte eine kurze Pause.
›Zuerst einmal möchte ich euch ans Herz legen, dass ihr nicht über das sprecht, was ihr jetzt hören werdet.‹ Er sah uns an und wir nickten zur Bestätigung.
›Gut, ihr solltet erst einmal einiges von Mao Lu Peng erfahren, damit ihr ihn und die letzten Geschehnisse besser versteht. Mao Lu Peng ist der fünfte Sohn aus einer sehr einflussreichen Familie. Er ist ein Nachzügler und all seine Geschwister sitzen in einflussreichen Positionen oder haben in dementsprechende Familien eingeheiratet. Sein Vater ist mittlerweile unser Provinzgouverneur und seine beiden ältesten Brüder sind im engeren Beraterstab des Kaisers. Mit viel Geschick hat es Mao Lu Pengs Vater geschafft, sich nach oben zu arbeiten und ich konnte damals nicht verstehen, warum sie ihren jüngsten Sohn zu uns ins Kloster gaben. Er tat mir sehr leid, weil ich dachte, dass sie ihn abgeschoben hätten, um sich in ihrem Alter nicht noch einmal mit einem Kind abgeben zu müssen. Mao Lu Peng war ein kräftiger und aufgeweckter Kerl von sechs Jahren als er zu uns kam, doch er hatte große Probleme sich einzugliedern. Ich gab mir viel Mühe, es ihm leichter zu machen, aber nach einiger Zeit bat ich seinen Vater, ihn wieder nach Hause zu holen, da er sich hier nicht einleben wollte. Mao Lu Peng fühlte sich als etwas Besseres und verachtete die ärmeren Alterskameraden. Er war eine bevorzugte Behandlung gewohnt und konnte sich nicht damit abfinden, hier einer von vielen zu sein. Damals wusste ich nicht, wie es sein Vater geschafft hatte, doch nach einem längeren Gespräch mit Mao Lu Peng fügte er sich recht gut in alles hier ein. Er gab sich viel Mühe, war wissbegierig und lernte schnell. Nach und nach wurde er ein bevorzugter Schüler von mir und bald war er einer der jüngsten Meister, die das Kloster jemals gehabt hat. Doch von da an veränderte er sich. Er wurde herrschsüchtig und anmaßend. Langsam machte ich mir Vorwürfe und lange Zeit dachte ich, dass meine bevorzugte Behandlung der Grund dafür wäre.‹ Wieder einmal strich sich der Abt mit der Hand über den Schädel.
›Nun, jetzt weiß ich es besser. Einige mir wohlgesonnene Beamte am Kaiserhof haben mir den wahren Grund genannt. Sein Vater hat ihn nicht ohne Berechnung zu uns ins Kloster gegeben. Unser Kloster ist eigenständig, hat sehr viel Einfluss in der Umgebung, wird vom Kaiserhof sehr hoch geachtet und ist aber keiner der wichtigen Familien verpflichtet. Alle Versuche der großen Familien, Einfluss zu gewinnen, scheiterten bisher daran, dass fast alle Mönche aus armen Verhältnissen stammen. Mao Lu Peng hier einzuschleusen war somit ein guter Versuch, das Kloster an die Familie zu binden. Seine Geschwister hatten schon alle wichtigen Positionen erklommen, die sein Vater erreichen konnte und Mao Lu Peng sollte nun hier seinen Weg gehen. Vermutlich hat er ihm, damals in dem Gespräch, das ihn so gefügig gemacht hatte, genau das gesagt, denn seine Brüder am Hof brüsten sich nun damit, dass es schon lange geplant war, eine Armee aus Kampfmönchen zusammenzustellen, deren General Mao Lu Peng sein soll. Eine Gruppe einflussreicher Beamter hat nun unter Anleitung der beiden den jungen Kaiser dahingehend beeinflusst. Es war sicherlich auch leicht, denn diese Armee kostet den Kaiser höchstens einige Privilegien, die er dem Kloster in diesem Fall gerne zugesteht. Er muss keinen Sold zahlen und hat eine kampfstarke Truppe, die ihm loyal ergeben ist.‹ Han Liang Tian holte tief Luft. ›Tja, Mao Lu Peng schwebt seitdem auf Wolken, denn großer General ist er nun geworden und Abt wird er sicherlich auch noch werden, denkt er. Doch da hab ich auch noch ein Wörtchen mitzureden. Noch lebe ich, und ich habe nicht vor, so bald zu gehen!‹ Han Liang Tian richtete sich ein wenig auf und fuhr fort: ›Ich musste allen Einfluss, den ich bei mir zu Dank verpflichteten Mitgliedern des Hofes habe, geltend machen, um einiges zu meinen Gunsten zu verändern. Vieles läuft über Intrigen am Hof und so war es mir möglich, einige davon zu überzeugen, dass es doch besser wäre, wenn Mao Lu Pengs Familie nicht gar so viel Macht über das Kloster bekommen würde. Das leuchtete ihnen ein und so konnte ich zwar nicht mehr verhindern, dass Mao Lu Peng zum großen General der Kampfmönche ernannt wurde, doch es wurde vom Kaiser festgelegt, dass ich weiterhin der Abt bleibe und dass alles, was nichts mit Mao Lu Pengs Armee zu tun hat, mir untersteht. Auch meine Nachfolge solle ich nach meinem Gutdünken regeln. Mao Lu Peng und seine Familie denken zwar, dass es gar nicht anders sein könne, als dass dieses Amt dann dem General zufällt, doch ich gedenke, ihnen diesen Gefallen nicht zu tun. Nicht weil ich denke, dass sie schlechter sind, als die anderen hohen Beamten. Nein, weil ich mir sicher bin, dass das Kloster durch diese Armee nun schon mehr als genug in die Machtspiele der Fürsten verstrickt ist.‹ Han Liang Tian schüttelte bedauernd den Kopf.
›Ihr seht, es wird sich hier einiges ändern. Das ruhige, Buddha wohlgefällige, meditative Leben wird gestört werden durch diese Veränderungen. Ich habe, seit wir wieder zurück sind, schon viele Gespräche geführt und wir haben beschlossen, außerhalb des Klosters eine Art Kaserne einzurichten, um das normale Klosterleben nicht ganz zu zerstören. Mao Lu Peng werden wir sicher damit überzeugen können, dass innerhalb der Klostermauern nicht genug Platz für seine vielen neuen Kämpfer sein wird. Was mich aber am meisten bedrückt ist, dass viele unserer Brüder nun nur noch fürs Kämpfen da sein werden und der Zweck des Klosters damit verloren geht.‹
Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Die darauffolgende Stille im Raum war bedrückend. Dadurch wurde mir wieder bewusst, wie schmerzhaft diese Sitzhaltung für mich im Moment war. Mao Lu Pengs Schläge waren nicht spurlos an mir vorübergegangen. Beim Atmen hatte ich immer noch einen stechenden Schmerz in der Brust, der rechte Arm war halb taub und kraftlos, aber am meisten schmerzte mich im Moment das linke Bein. Die Kniekehle, die einen Tritt Mao Lu Pengs abbekommen hatte, war angeschwollen und der Druck dieser Schwellung war in meiner jetzigen Sitzhaltung recht unangenehm. Der Fuß war mir schon eingeschlafen und vorsichtig wollte ich meine Sitzhaltung verändern. Doch als ich mich aufrichtete und das Bein anders lagern wollte, durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Ich konnte ein leises Aufstöhnen nicht unterdrücken, wodurch Han Liang Tian darauf aufmerksam wurde. Er richtete sich auf und rutschte näher zu mir heran. Dann betastete er die verletzten Stellen und schüttelte den Kopf.
›Du hast dich erstaunlich gut gehalten bei dieser Auseinandersetzung. Doch er hat dir auch ganz schöne Treffer verpasst. Ich glaube, wenn Chen Shi Mal mich nicht hätte holen lassen, hättest du die nächsten Tage deine Pritsche nicht verlassen.‹ Er beugte sich herab und betrachtete die Schwellung in der Kniekehle, dann stand er auf und holte aus einer Nische bei seiner Pritsche eine kleine Schale.
›Hier, reibe die geschwollenen Stellen mit dieser Salbe ein. Es ist ein gutes Mittel gegen die Schmerzen und wird die Schwellungen schnell zurückgehen lassen.‹ Er setzte sich wieder hin und zeigte auf die Wand. ›Lehne dich dort an und mach das Bein lang, diese Sitzhaltung ist jetzt besser für dich.‹ Ich rutschte zur Wand und nahm die empfohlene Haltung ein. Dann behandelte ich mit der Salbe die schmerzenden Stellen und spürte auch schnell eine Linderung. Han Liang Tian nickte und sagte:
›Es ist nichts gebrochen. Nur kräftige Prellungen hast du davongetragen. Am meisten wird dich vermutlich die Stelle auf den Rippen behindern. Da hat er dich ganz schön erwischt.‹ Er schmunzelte und nickte noch einmal anerkennend. ›Du hast schon viel gelernt Gü Man. Hätte er dich in deinen ersten Tagen hier so angegriffen, wärst du nach dem zweiten Treffer nicht mehr aufgestanden.‹ Ich freute mich über das Lob und war doch nicht ganz zufrieden mit mir. Der Kampf hatte von meiner Seite her nur aus Gegenwehr bestanden und diese war auch nur mehr schlecht als recht ausgefallen. Ohne an Wang Lee zu denken, verfiel ich in den schweigenden Gedankenaustausch.
›Leider bin ich immer noch nicht gut genug, um wenigstens einen kleinen Gegenschlag zu führen. Das ärgert mich sehr, denn einen kleinen Klaps hätte ich ihm zu gerne gegeben.‹
Han Liang Tian lachte auf und antwortete laut.
›Sei zufrieden mit dem, was du geschafft hast. Es war für die Zeit, die du hier bist, schon außergewöhnlich gut. Deswegen war Mao Lu Peng auch so wütend. Er hatte erwartet, dich mit dem ersten Angriff niederzustrecken und lächerlich zu machen, doch du hast dich für seinen Geschmack viel zu gut gewehrt. Vergiss nicht, er ist mit Abstand der beste Kämpfer hier!‹ Der Blick des Abtes fiel auf das erstaunte Gesicht Wang Lees. ›Ah, entschuldige, wir müssen dir wahrscheinlich noch einiges erklären. Ich habe gesehen, dass es dir auf dem Herweg schon aufgefallen ist.‹ Er deutete auf mich. ›Gü Man und ich, wir unterhalten uns sehr oft nur in Gedanken. Wir brauchen es nicht laut auszusprechen, und können uns doch ganz normal verständigen.‹
Wang Lee sah mich erstaunt an.
›Du beherrschst die lautlose Sprache?‹ Ein pfeifender Ton der Anerkennung entfuhr ihm. ›Nur wenige können das, ich erlebe immer wieder Überraschungen mit dir.‹
›Ich denke, dass auch du das kannst Wang Lee, es hat bloß noch keiner mit dir geübt.‹ Bei diesen Worten sah der Abt von mir zu Wang Lee und wieder zurück. ›Vielleicht kann Gü Man es dir beibringen, denn ihr werdet in Zukunft sowieso mehr Zeit miteinander verbringen.‹
›Ich? Ich bin doch selbst noch Schüler! Kaum, dass ich das Grundprinzip begriffen habe, und da soll ich einen anderen unterrichten?‹
›Warum nicht? Du bist soweit, dass du selbstständig ohne große Anstrengung Kontakt zu mir aufnehmen kannst, also müsstest du, wenn Wang Lee aufnahmebereit ist, das auch bei ihm können.‹ Er nickte. ›Außerdem habe ich euch ja schon gesagt, dass ihr jetzt viel mehr Zeit miteinander verbringen werdet. Aber nicht hier im Kloster. Ihr müsst für eine Weile verschwinden.‹ Erstaunt sahen wir ihn an. ›Ja, ihr werdet für eine Weile durchs Land ziehen. Für Gü Man wird es gut sein, wenn er auch mal die Menschen im Umland kennenlernt und etwas Abstand von hier bekommt.‹
›Ich denke nicht …‹ Mit einer Handbewegung unterbrach mich Han Liang Tian.
›Es hat auch noch einen anderen Grund. Mao Lu Peng hat am Kaiserhof von dir erzählt und einige Leute neugierig gemacht. Einer der Beamten hat mir hinter vorgehaltener Hand mitgeteilt, dass eine Abordnung des Hofes hierherkommen wird, um herauszufinden wer du bist und woher du kommst.‹ Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. ›Die Stimme in meinem Traum damals hat mich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich nicht zu viele Fragen stellen sollte. Deine Vergangenheit ist hier unwichtig. Und nachdem ich einige Bilder in deinen Gedanken gesehen habe, verstehe ich auch, warum mich die Stimme so nachdrücklich darauf hingewiesen hat. Es gibt Dinge, die man nicht verstehen kann und deswegen ist es besser, wenn die Leute nichts davon erfahren.‹ Wieder einmal strich er sich mit der Hand über seinen Kopf.
›Es ist sicherlich auch besser, wenn ihr Mao Lu Peng eine Weile nicht über den Weg lauft. Ich habe am Kaiserhof auch etwas intrigiert und denke, sie werden ihn demnächst für eine Weile dorthin beordern, um die Kaiserliche Leibgarde besser auszubilden. Einige Worte am rechten Fleck zur rechten Zeit können oftmals viel bewirken‹, setzte er lächelnd hinzu. ›Selbst wenn das nicht klappen sollte, wird er, denke ich, in ein, zwei Monaten, wenn er die ersten seiner neuen Kämpfer hat, milder gestimmt sein. Außerdem hat er dann genug zu tun.‹
Wang Lee, der das Kloster noch nie über einen längeren Zeitraum verlassen hatte, fragte:
›Wo sollen wir denn hin und für wie lange müssen wir weg sein?‹
›Ich denke ein, zwei Monate sollten genügen.‹ Er überlegte kurz. ›Besser zwei. Es schadet euch nicht und bringt Ruhe in die ganze Angelegenheit. Ich werde jetzt genug mit anderen Dingen zu tun haben und kann nicht immer für dich da sein Gü Man‹, sagte er entschuldigend.
Ich nickte verstehend.
›Wie weit bist du überhaupt mit der Aufgabe gekommen, die ich dir gestellt hatte?‹
›Na ja, nicht so weit, wie ich wollte oder vielleicht sollte. Mittlerweile kann ich zwar in den meisten Dingen diese Energie spüren, doch nutzen kann ich sie nicht. Ich finde einfach keinen Weg, um das zu erreichen.‹
›Das habe ich auch nicht erwartet‹, sagte er zu meiner Überraschung. ›Dazu braucht es noch viel Zeit. Aber wenn du die Kraft in den Dingen um dich herum schon wahrnimmst, hast du in dieser kurzen Zeit schon viel geschafft. Beschäftige dich weiter damit und gehe mit offenen Augen durch die Welt, dann wirst du Dinge sehen, die du bisher noch nicht wahrgenommen hast.› Han Liang Tian erhob sich und wollte das Gespräch beenden, doch er hatte die erste Frage von Wang noch nicht beantwortet. Wir standen auch auf und Wang Lee nutzte die Gelegenheit, seine Frage zu wiederholen:
›Wann und wo sollen wir hin gehen?‹
›Ach, entschuldige Wang Lee, es gibt zurzeit so viel zu bedenken. Ich hatte deine Frage schon wieder vergessen.‹ Er überlegte kurz. ›Das Beste wäre vielleicht, wenn ihr gleich morgen aufbrechen würdet. Ein besonderes Ziel gibt es für euch nicht. Gü Man soll einfach Land und Leute kennenlernen. Doch wenn ihr möchtet und euch der Weg nicht zu weit erscheint, könnt ihr dem Kloster von Wudang einen Besuch abstatten. Ich werde euch, für den Fall, dass euch eure Füße dorthin tragen, einen Brief an den dortigen Abt mitgeben. Holt ihn vor eurem Aufbruch bei mir ab. Und nun lasst mich zur Ruhe kommen, ich muss ein wenig meditieren, um wieder Kraft zu bekommen.‹ Han Liang Tian ließ sich vor dem Schrein nieder und fügte abschießend hinzu: ›So viel, wie in den letzten Tagen und Wochen, habe ich die letzten zehn Jahre nicht gesprochen.‹
Der Abt schloss die Augen und gab damit das Zeichen, dass für ihn das Gespräch beendet sei. Wir gingen raus und blieben erst einmal ratlos stehen. Was sollten wir nun tun? Gleich losgehen? Nein das ging nicht, denn zum einen sollten wir uns noch den Brief bei Han Liang Tian abholen und zum anderen mussten wir auch noch einige Vorbereitungen treffen. Wang Lee machte den Vorschlag, dass wir uns beim Koch Wegzehrung organisieren sollten. Wir hatten schon diese Richtung eingeschlagen, als wir Mao Lu Peng auf dem Weg dorthin bemerkten, und um eine weitere Konfrontation zu vermeiden, entschlossen wir uns, das Ganze auf Mittag zu verschieben.
Es war noch zeitiger Vormittag und wir suchten uns einen Fleck, an dem wir allein und ungestört trainieren konnten. Während der Suche nach einem geeigneten Ort fragte ich Wang Lee über das Kloster aus, von dem der Abt gesprochen hatte und erfuhr einige interessante Dinge.
Anscheinend gab es schon seit Langem eine lockere Verbindung zu diesem Kloster. Locker deshalb, weil sich die Glaubensrichtungen grundsätzlich unterschieden. Hier wurde der Chan-Buddhismus praktiziert und in Wudang der Taoismus. Dennoch waren in der langen Geschichte des Shaolin-Klosters immer wieder einmal Mönche nach Wudang gegangen und nur wenige von ihnen kamen zurück. Das Shaolin-Kloster wurde von den Machthabern wegen der Kampfmönche oft als Bedrohung angesehen und deshalb mehrfach in seiner Geschichte niedergebrannt. Die Mönche mussten dann fliehen und einige gingen nach Wudang. Aber auch aus anderen Gründen haben manche Shaolin verlassen. Vielleicht waren auch einige dabei, denen das körperlich sehr anstrengende Training zu viel wurde, denn die Kampfarten, die in diesen beiden Klöstern gelehrt werden, unterscheiden sich ebenfalls grundsätzlich. Im Shaolin-Kloster wurde eine physisch sehr anspruchsvolle Art des Kämpfens gelehrt, die viel Körperkraft und Ausdauer verlangte und nur einige wenige, wie der Abt, versuchten, auch die innere Stärke, das Chi, mitzunutzen. In Wudang dagegen wird viel Wert auf die innere Kraft, das Chi, gelegt. Diese Art des Kämpfens ist auf Verteidigung ausgerichtet und es wird versucht, die Kraft des Angreifers zur Verteidigung oder zum Gegenangriff zu nutzen. Eine Legende besagt, dass ein ehemaliger Shaolin-Mönch diese Art des Kampfes in Wudang entwickelt und gelehrt hat. Dieser Mann hieß Zhang San Feng und gilt auch als Begründer des Tai Chi. Über die Jahre wurde von einigen zurückkehrenden Mönchen das Tai Chi mit nach Shaolin gebracht, doch nur Wenige und meist nur die Alten konnten sich damit anfreunden. Bei den Jüngeren war es verpönt, da es als zu weich galt und der Grundsatzlehre des Klosters widersprach. Nun verstand ich auch, warum einige der Jüngeren oft gelächelt hatten, wenn ich und Wang Lee morgens mit den Alten Tai Chi ausübte. Han Liang Tian hatte sicherlich nicht ohne Grund das Wudang-Kloster als mögliches Ziel erwähnt. Er legte sehr viel Wert auf die innere Kraft und hatte immer wieder betont, dass sich die innere und äußere Kraft ergänzen müssten, um zu außergewöhnlichen Leistungen fähig zu sein. Doch nur wenige verstanden ihn. Nach Wang Lees Erklärungen begriff ich auch, warum er es so ungern sah, dass das Kloster so viele Kämpfer ausbilden sollte. Diese Kämpfer waren dem Kloster in der Vergangenheit ja schon zum Verhängnis geworden.
Während dieses Gespräches hatten uns unsere Schritte zum Wasserbecken geführt und wir trainierten dort bis zur Mittagszeit. Dieses Training erinnerte mehr an ein intensiveres Tai Chi, denn die Stellen, an denen mich Mao Lu Peng getroffen hatte, schmerzten immer noch erheblich und behinderten mich stark. Es war schon erstaunlich, dass Wang Lee als einer der Jüngeren Tai Chi praktizierte und sich auch offen dazu bekannte. Anscheinend war er dem Abt sehr verbunden und hatte die gleiche Denkweise.
Später als die anderen strebten wir nach dem großen Andrang der Küche zu. Glücklicherweise begegneten wir Mao Lu Peng nicht. Der Koch schien schon von dem Zusammenstoß erfahren zu haben. Irgendwie entging ihm nichts, was im Kloster vorging. Eindringlich musterte er mich, nickte anerkennend und gab mir eine besonders große Portion. Fragend sah ich ihn an.
›Du hast dir heute einen großen Feind gemacht, aber auch bei vielen sehr viel Achtung erworben.‹
›Ich habe nicht darum gebeten und es tut mir leid, dass es soweit gekommen ist‹, sagte ich entschuldigend.
›Das wissen alle, doch wie soll’s nun weitergehen?‹
›Wir werden für einige Zeit das Kloster verlassen und brauchen Wegzehrung‹, warf Wang Lee ein.
Der Koch nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.
›Hab ich mir schon gedacht. Ich werde euch etwas vorbereiten. Holt es euch heute Abend ab.‹ Nach diesen Worten wendete er sich wieder seinen Kochtöpfen zu und wir setzten uns in den Schatten, um unsere Mahlzeit einzunehmen.
Nach dem Essen ging Wang Lee zur Mittagsandacht und organisierte anschließend noch einiges. Ich versuchte, im kleinen Tempel zu meditieren, doch so richtig zur Ruhe kam ich nicht. Immer wieder kreisten meine Gedanken um die letzen Geschehnisse und bald haderte ich wieder mit meinem Schicksal.
In dieser Verfassung fand mich am späteren Nachmittag Wang Lee. Er spürte, dass es mir nicht gutging und fragte:
›Möchtest du lieber allein sein oder hast du Lust auf ein gemeinsames Training?‹
Im ersten Augenblick wollte ich ihn bitten, mich allein zu lassen, doch nach einem Blick in seine freundlichen Augen besann ich mich und stand auf. Langsam, jede Begegnung vermeidend, gingen wir wieder aus dem Kloster.
Nach einer Weile brach Wang Lee das Schweigen.
›Möchtest du darüber sprechen oder ist es etwas, das ich nicht erfahren sollte?‹
Ich sah auf. Er war wirklich ein guter Freund. Mit viel Feingefühl hatte er erkannt, was in mir vorging und wollte mir helfen. Nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens entschloss ich mich, ihm von meinen Problemen zu erzählen. Aufmerksam hörte Wang Lee mir zu, stellte keine Fragen und erst als ich geendet hatte, ergriff er das Wort.
›Ich glaube nicht, dass du dir Vorwürfe machen solltest. Es war so vorbestimmt und es ist dein Weg, den du gehen musst. Hadere nicht mit deinem Schicksal, denn ich denke, dass es einem besonderen Zweck dient. Du magst ihn jetzt noch nicht erkennen und vielleicht wird er dir im Augenblick des Geschehens auch nicht gleich auffallen, doch ohne dich kann es nicht stattfinden.‹ Langsam wie Wassertropfen drangen Wang Lees Worte in mich ein. ›Jedes Leben ist wichtig und trägt zum großen Ganzen bei. Auch dein Hiersein hat einen ganz bestimmten Grund. Und wenn es nur der war, Lei Cheng das Schwimmen zu lehren. Ich denke zwar nicht, dass es das war, doch nehmen wir es einmal als Beispiel.‹ Wir hatten mittlerweile das Wasserbecken erreicht und setzten uns in den Schatten einiger Bäume.
›Du hast Lei Cheng das Schwimmen beigebracht und ihm damit Selbstvertrauen gegeben. Nicht nur, dass er dadurch nun in seiner Gruppe geachtet wird und jetzt auch seine anderen Fähigkeiten ausspielen kann. Nein, er hat auch noch einem anderen das Leben gerettet und Tong De verhält sich mittlerweile auch anders. Er hat sich manchmal so verhalten wie Mao Lu Peng in seinem Alter, doch nun, durch seine neugewonnene Freundschaft mit Lei Cheng, ist er ein vollwertiges Mitglied der Gruppe.‹ Wang Lee sah mich an und fuhr fort: ›Du siehst, was deine Handlungen für einen Einfluss haben. Keiner kann dir sagen, was einmal daraus entsteht, doch es liegt nur an dir, dass es geschieht und dass du, nach deinem Ermessen das Richtige tust. Vielleicht wird Lei Cheng durch deine Hilfe im richtigen Moment einmal ein ganz Großer oder Tong De wird durch seine Veränderung zu Besonderem befähigt. Eine kleine Handlung von dir kann in der Zukunft große Auswirkungen haben.‹
Wang Lees Worte machten großen Eindruck auf mich. Im ersten Moment bauten sie mich richtig auf, doch dann machten sie mir fast Angst. Da ich Wang Lee nicht alles erzählen konnte oder wollte, bat ich ihn, mir Zeit zu geben, um darüber nachzudenken. Er verstand das und deshalb entschlossen wir uns, unser Hiersein zur Meditation zu nutzen.
Doch das wollte mir nicht so recht gelingen. Was sollte ich nur tun? Was, wenn ich mit solch einfachen Aktionen schon großen Schaden für die Zukunft hervorgerufen hatte? Doch ich wusste ja gar nicht, wo ich mich befand. Obwohl ich nun schon verschiedene Details aus der jetzigen Zeit kannte, hatte ich mich viel zu wenig mit der chinesischen Geschichte befasst, um sagen zu können, ob ich in China und einer vergangenen Epoche war oder nicht. Vieles deutete darauf hin, dass es so war, doch wie sollte das geschehen sein? Ich rief mir die Geschehnisse ins Gedächtnis, die dazu geführt hatten, dass ich hier war und konnte doch keine Lösung finden. Genauso gut konnte ich in einer parallelen Dimension sein, nur träumen, nach meinem Selbstmordversuch im Koma liegen oder es war das Leben nach dem Tod.
War ich wirklich in der Vergangenheit, dann konnte jede meiner Handlungen schwerwiegende Folgen für die Zukunft haben, auch wenn ich das jetzt noch gar nicht absehen konnte. Was, wenn zum Beispiel durch Tong De irgendetwas ausgelöst oder verändert wurde, sodass in China keine Kulturrevolution stattfinden würde? Es würde die ganze Welt, so wie ich sie kannte, verändern. Doch wäre ich dann dennoch hier und würde die Geschichte so kennen, wie sie mir in Erinnerung ist?
Erst nach Stunden, Wang Lee war schon lange zurück ins Kloster gegangen, um noch einiges vorzubereiten, kam ich zu dem Schluss, dass ich sowieso nichts ändern konnte. Was sollte ich denn auch tun, jeder Kontakt mit anderen konnte irgendetwas bewirken, dass großen Einfluss hatte! Ich konnte mich höchstens umbringen, was schon einmal gescheitert war und wozu ich eigentlich auch keinen Grund mehr sah. Oder ich musste bis zum Lebensende irgendwo ein Einsiedlerdasein führen, was aber nicht ausschloss, dass mir nicht doch irgendwann jemand begegnete. Zwischendurch kam mir der Gedanke, auf Wanderschaft zu gehen und meine Heimat zu suchen. Doch diesen Gedanken verwarf ich recht schnell wieder, denn zum einen hatte ich hier eine neue Heimat gefunden, in der ich mich recht wohl fühlte und zum anderen war es, für die Verhältnisse, in denen ich mich nun befand, ein fast unmöglich weiter Weg. Daher entschloss ich mich, einfach weiterzuleben und dabei möglichst wenig Einfluss auf mein Umfeld zu nehmen. Vor allen Dingen wollte ich nach Möglichkeit nichts von dem preisgeben, was ich von der möglichen Zukunft wusste. Vielleicht machte ich mir ja auch umsonst Gedanken und alles war nur ein langer Traum. Nach diesem Entschluss gelang es mir endlich, mein Gleichgewicht wiederzufinden.
Die Sonne hatte schon fast den Horizont erreicht, als ich schließlich aufstand und ins Kloster zurückging. Wang Lee, der gerade nach mir sehen wollte, begegnete mir am Tor. Gemeinsam gingen wir zum Koch und holten uns die versprochene Wegzehrung ab. Mit seinen freundlichen Wünschen und zwei großen Paketen machten wir uns auf den Weg zu unseren Quartieren.
›Gibt es eigentlich etwas, das der Koch dieses Klosters nicht weiß?‹
Wang Lee lachte kurz auf.
›Ich glaube nicht. Ihm entgeht wenig von dem, was hier vorgeht. Jeder, der hungrig ist, muss zu ihm oder seinen Gehilfen und wenn möglich, wird da auch ein kleiner Schwatz gemacht. Doch er ist ein gutmütiger und verschwiegener Mann. Wenn sich jemand aussprechen will und sagt, er soll es keinem weitererzählen, kann man sich darauf verlassen, dass er das auch nicht tut.‹
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